„Das Gehirn hat keine Löschtaste“ – Chronische Schmerzen brauchen eine komplexe Therapie
Wenn Schmerzen chronisch werden, verändert sich das Nervensystem. Darum müssen chronische Schmerzen, etwa ständige Rückenschmerzen, anders behandelt werden als Akutschmerzen: Sie brauchen eine komplexe (multimodale) Therapie. Das berichten Experten auf dem Deutschen Schmerztag.
Rückenschmerzen haben nur in den seltensten Fällen eine spezifische Ursache, beispielsweise einen Bandscheibenvorfall oder degenerative Veränderungen an der Wirbelsäule. Bei mehr als 90 Prozent aller Fälle – also der Mehrzahl der Rückenschmerzen – handelt es sich um so genannte unspezifische oder funktionelle Rückenschmerzen. Diese beruhen auf Funktionsstörungen des komplexen Systems aus Muskeln, Gelenken und Bändern des Rückens. Funktionsstörungen der Muskulatur spielen dabei eine wesentliche Rolle. Manche Muskeln sind überfordert, andere unterfordert. Die Muskeln verkürzen und verhärten sich, ihre Kraft schwindet. Diese Störungen haben ihre Ursache meist in den Lebensumständen und dem Verhalten der Betroffenen: Bewegungsmangel, Fehlhaltungen sowie Stress.
Stress und andere psychosoziale Faktoren können beispielsweise die Muskelspannung im Rücken steigern. Kommen dann noch einseitige und/oder starke körperliche Belastungen hinzu, ist es nicht verwunderlich, dass der Rücken bei fehlendem Ausgleich Probleme machen kann. Wird dieser Kreislauf nicht durchbrochen, ist das Risiko hoch, dass sich die Pein im Kreuz dauerhaft einnistet.
Entscheidende Prozesse im Rückenmark. Die entscheidenden Prozesse dieser Schmerzchronifizierung spielen sich auf der Ebene von Zellen und Molekülen im Nervensystem ab. Leiten Nervenfasern einen starken Schmerzreiz aus dem Körper zu den Nervenzellen des Rückenmarks, ist im System binnen Sekundenbruchteilen „der Teufel los“: Die Zellen setzen Botenstoffe frei, etwa die Substanz P oder Glutamat, es öffnen sich Ionenkanäle, die „Tore“ der Zellen, Calcium strömt ein. Auch die Immunzellen im Nervensystem, die Mikroglia, werden aktiv. Komplexe Signalkaskaden verstärken die Empfänglichkeit der Zellen für weitere Reize. Bindungsstellen (Rezeptoren) auf der Zelloberfläche für Botenstoffe werden somit leichter aktivierbar.
Doch gleichzeitig schickt das Gehirn hemmende Signale und Nervenzellen produzieren körpereigene Schmerzhemmer, die Endorphine und Endocannabinoide. Ist diese körpereigene Schmerzabwehr stark genug und bleiben weitere Schmerz-Impulse aus, kommt das System zur Ruhe, verblasst die Gedächtnisspur im Nervensystem binnen Tagen bis Wochen.
Anhaltende Schmerzen münden hingegen in einen Teufelskreis: Wenn die Nervenzellen im Rückenmark ohne Pause „feuern“, kommt es bei den Neuronen zu einer „Potenzierung der synaptischen Übertragungsstärke“. Vergleichbar ist dies mit dem Lauterdrehen eines Verstärkers in der Musikanlage. Die Nervenzellen werden hypersensibel und melden auch bei harmlosen, schwachen Reizen das Signal „Schmerz“, selbst dann, wenn die eigentliche Schmerzursache schon nicht mehr existiert.
Die Hemmung stärken. Doch es gibt nicht nur eine Langzeitpotenzierung, sondern auch eine Langzeithemmung der synaptischen Übertragungsstärke, kurz LTD (»long-term depression) genannt. Solche Mechanismen bremsen den Einstrom der Schmerzimpulse und dämpfen das System. Das Forscherteam um Professor Walter Zieglgänsberger vom Max Planck-Institut für Psychiatrie in München konnte bei Untersuchungen an Nervenzellen beispielsweise zeigen, dass die Substanz Flupirtin die Langzeithemmung verstärkt und das überaktive Nervensystem dämpft. Die Substanz öffnet die Kaliumkanäle der Zellen, wodurch Kalium aus den Zellen ausströmt. Dies reduziert die Empfänglichkeit der Neuronen für ankommende Impulse.
Auch andere Medikamente – Opioide oder bestimmte Antidepressiva – können über andere Mechanismen das System dämpfen.
Ruhe ins System bringen. Diese »Ruhe im System« ermöglicht, den Teufelskreis des Schmerzes zu durchbrechen. Wird der Impulsstrom gestoppt, kann das im Gehirn tief eingebrannte Schmerzgedächtnis durch neue, positive Inhalte quasi „überschrieben“ werden. »Löschen können wir die Erinnerungen an den Schmerzn, das Schmerzgedächtnis nicht, denn unser Hirn hat – im Gegensatz zum Computer – keine Löschtaste«, sagt Zieglgänsberger. Der Zugriff auf das Schmerzgedächtnis gelingt nur über neue Erfahrungen und neue Lernprozesse.
Schmerzferien ermöglichen neue Erfahrungen. Darum plädiert Zieglgänsberger für die so genannten Schmerzferien. Bei Schmerzferien können Patienten eine Zeit mit deutlich weniger oder keinen Schmerzen erleben. Möglich ist dies durch den Einsatz von Medikamenten, die an verschiedenen Stellen in die Schmerzverarbeitung eingreifen. Dann können Patienten in den Schmerzferien die Erfahrung machen, dass sie viele Dinge tun können, vor denen sie zuvor Angst hatten. Dadurch wird die alte Verknüpfung zwischen diesen Situationen und dem Schmerzgedächtnis nicht mehr verstärkt, sondern durch eine neue, positive Erinnerung überlagert. So lässt sich die Erinnerung an den Schmerz zurückdrängen. Neue Erfahrungen überdecken die alten. Denn die Lernfähigkeit unseres Gehirns ist nicht nur dafür verantwortlich, dass ein Schmerzgedächtnis entsteht. Die Lernfähigkeit kann auch bis ins hohe Alter dazu genutzt werden, Schmerz wieder zu verlernen.
Quelle: Der Deutsche Schmerztag 2006, 17. Deutscher interdisziplinärer Schmerzkongress Frankfurt/Main, 23.-25.03.2006