Dr.Paul Köstler
Facharzt für Orthopädie u.orthop.Chirurgie
Niemals zuvor gab es so viele orthopädische Probleme wie im ausklingenden 20.Jahrhundert.
Die aktuelle Statistik 1996 bestätigt, daß fast 85 % aller Krankenstandstage der Österreicher auf Erkrankungen des Bewegungsapparates zurückzuführen sind.
Die daraus resultierende Unterforderung der Muskulatur, Bänder Knochen und Gelenke ist offensichtlich und die massive Zunahme von Haltungsschäden (schon im Vorschulalter) und degenerativen Veränderungen an Gelenken und Wirbelsäule.
In diesen Zeitraum fällt auch die Geburtsstunde der Manuellen Medizin („Manus“ = lat.die Hand) oder auch Chirotherapie (griechisch), die mit einfachsten Mitteln (detaillierte Erhebung der Krankengeschichte, Röntgenbild, Labortests und gezielte Inspektion des Bewegungsapparates) Störungen des Gelenkspieles und der damit verbundenen Weichteile diagnostizieren kann.
Die Vorreiter der Chirotherapie Ende der sechziger Jahre in Österreich waren Univ.Prof.Dr.H. Tilscher und Doz.Dr.M.Eder, die eine bis dahin ausschließlich als Außenseitermethode abgestempelte Therapie, voll in die österreichische und europäische Schulmedizin integrieren konnten. Durch ihre wissenschaftlich fundierten Arbeiten widerlegten sie die bis dahin von „Heilpraktikern“ propagierten Theorien von der Entstehung von Erkrankungen des Bewegungsapparates und machten die Manuelle Medizin zu einer europaweit universitär anerkannten Lehre. In seinen Kursen stellte Prof.Tilscher immer wieder das „kritische Detail“ und das „Be-greifen“ des Patienten in den Vordergrund.
Die von der österreichische Ärztekammer in Österreich und inzwischen auch in EU-Ländern geforderten Ausbildungsrichtlinien zum Manualmediziner sind seit einigen Jahren klar festgelegt. Nach einer speziellen Ausbildung in mehreren Kursen und nachgewiesener Praxis erwirbt der Mediziner ein Diplom der Ärztekammer, welches ihn zur Ausübung dieser Heilmethode und auch zur Verrechnung mit den Sozialversicherungsträgern berechtigt.
Der erste Teil einer geplanten dreiteiligen Serie über die Manuelle Medizin ist der Lendenwirbelsäule (LWS) gewidmet.
Laut einer Umfrage hatten bis zu 80% der erwachsenen Bevölkerung in den Industrieländern schon irgendwann einmal Probleme mit ihrer Wirbelsäule. Also beinahe vier von fünf Menschen haben mit Schmerzen im unteren Wirbelsäulenbereich zu tun gehabt.
Die Vielfältigkeit der Schmerzsymptome aber – von nächtlichen „Kreuzweh“ bis zur Lähmung einer ganzen Extremität – stellen für den behandelnden Arzt eine große Herausforderung dar.
Kaum ein Schmerzbild gleicht dem anderen. Vielleicht haben auch Sie schon den plötzlichen Wechsel des Schmerzes von einer auf die andere Seite beobachtet, und keine Erklärung für dieses Phänomen gewußt.
Um über Krankheiten der Wirbelsäule berichten zu können, möchte ich mit Ihnen zunächst einen kleinen Ausflug in die „heile Wirbelwelt“ machen.
Die WIRBELSÄULE
Die Wirbelsäule besteht aus 7 Hals-,12 Brust,- und 5 Lendenwirbeln. Sie dient nicht nur als Stütze für den aufrechten Gang, sondern als Sehhilfe (z.B.:Halsdrehung beim Vorbeifahren eines Autos), Hörhilfe (Kopfhinwendung zum besseren Verstehen) und als beteiligtes Gleichgewichtsorgan.
Ihre Schwachpunkte liegen, wie oft auch in der Technik, an den jeweiligen Übergangsregionen (Hals-Brust, Brust-Lende, Lende-Kreuzbein) und Einzelverbindungen (Bandscheiben).
Das Gesamtsystem der Wirbelkörper ist durch sehr schnell leitende und hochempfindliche Nervenfasern mit dem Gehirn vernetzt, um sowohl Haltung und Bewegungen zu koordinieren, als auch Störungen zu melden. Bei Fehlermeldungen eines Wirbelgelenkes reagiert das Zentralnervensystem sofort mit Steigerung der Muskelspannung (Tonus) des gestörten und auch benachbarter Segmente.
Dem Menschen stehen zur Stabilisierung neben der kräftigen Rückenmuskulatur entlang der gesamten WS auch noch Bänder (von Wirbelkörper zu Wirbelkörper, teilweise auch mit dem Becken verbunden) zur Verfügung. Als elastische Stoßdämpfer zwischen den einzelnen Wirbelkörpern fungieren die Bandscheiben, prall elastische, mit gelartiger Flüssigkeit gefüllte Pölster.
Zur Versorgung der Körpermuskulatur sowie der Arme und Beine laufen im Rückenmarkskanal gebündelte Nerven vom Gehirn in Richtung Becken. Je nachdem zu welcher Muskelgruppe gehörig, verlassen sie das Rückenmark durch einen knöchernen Kanal (gebildet aus jeweils zwei Wirbelkörpern).
Dieser Wurzelkanal liegt unmittelbar neben der Bandscheibe und ist nur wenige Millimeter breit.
Die Wirbelsäule ist mit den Bausteinen eines Holzbaukastens zu vergleichen. Ein Turm aus 24 Bausteinen kann nur dann stehen, wenn seine Achse im Lot ist und kein Stein aus der Baulinie ragt. Kaum aber wäre die Kante eines einzigen Bausteines abgeschrägt, würde der Turm zusammenbrechen.
DAS ALTERN
Mit dem 30.- 35. Lebensjahr beginnt der Mensch wieder kleiner zu werden, seine Bandscheiben werden durch Wasser,- und -Elastizitätsverlust dünner, es kommt zu Abnützungserscheinungen der Wirbelknochenoberflächen, Einbrüchen von Wirbeln bei Osteoporose, Knochenerker, die wie Kalkablagerungen eines Teekessels die Wirbelkanten überragen werden sichtbar und bisher glatte Gelenksflächen zeigen Furchen und Kratzer.
Ich unterscheide im weiteren Verlauf bewußt zwischen der Ursache und dem Auslöser von Schmerzen.
Die Ursachen sind das eben erwähnte Altern und bereits angeborene Faktoren wie zum Beispiel:
– vererbte schwache Muskulatur und Bänder
– Bindegewebsschwäche, aber auch der Wirbelsäule mit der Zeit zugefügte kleine und größere Schäden und subsummierende Begleitfaktoren, wie z.B.:
– jahrelange sitzende Arbeit oder schweres Heben
– wenig Ausgleichsbewegungen
– erhöhtes Körpergewicht
– Wechseljahre mit hormoneller Umstellung des
Knochenstoffwechsels
– psychische Faktoren, aber auch
– Unfälle, die seinerzeit als Bagatellen kaum wahrgenommen
wurden.
– entzündliche Herde, die ihre Gifte in den Körper verteilen
(eitrige Mandeln, kranke Zähne, chronische Nebenhöhlenentzündungen).
Als Auslöser müssen oft kleinste Einflüsse wie Nässe oder Zugluft, biometeorologische Ereignisse (Wetterwechsel, Jahreszeit), abrupte Bewegungen und vieles mehr gesehen werden.
Manchmal unmerklich, meist aber mit nur geringen Beschwerden verbunden, gerät das bisher stabile System des „Achsenorganes“ nach Jahren aus dem Gleichgewicht und steht nicht mehr im Lot.
In unserem Bauturmbeispiel müßten sie den Turm nun mit Händen oder Seilen vor dem Zusammenbrechen schützen.
Im Körper übernimmt diese anstrengende Aufgabe sowohl die Rückenmuskulatur als auch kräftige Bänder, die teilweise aufs äußerste überlastet werden.
Da sich die Degeneration über Jahrzehnte hinziehen kann bildet aber der Körper einen Zustand des labilen Gleichgewichtes aus. Der durch das Gehirn gesteuerte erhöhte Muskeltonus „korrigiert“ einstweilen die Fehlhaltung und Achsenabweichungen, Bänder müssen Muskelarbeit unterstützen und die verschmälerten Bandscheiben lassen seinen Besitzer nun seine Bewegungen langsamer und überlegter durchführen.
DIE MANUELLE MEDIZIN
Die Manuelle Medizin erfaßt durch ihre gezielte Funktionsuntersuchung und Anamnese all diese Störungen und kann dem Patienten einerseits durch gezielte therapeutische Handgriffe akute Schmerzsyndrome lindern (Mobilisierung der Wirbelsäule und Weichteile), andererseit eine heilgymnastische Therapie einleiten, um vor neuerlichen Auslösern gefeit zu sein.
Durch das Be-greifen des Patienten können kleinste „Verschiebungen“ von Wirbelgelenken oder chronische aus dem Gleichgewicht geratene Muskeln und Bänder diagnostiziert und meist in der selben Sitzung therapiert werden.
Der berühmte Knacks (Manipulation) des Chirotherapeuten ist nur der letzte Stein im Puzzle zur Heilung des Patienten. Es handelt sich dabei um einen kleinen Impuls aus der Hand des Therapeuten, der, nach genauester Positionierung des Patienten zum Schutz der übrigen Wirbelsäulenteile auf der Untersuchungsliege oder auch im Sitzen, auf ein funktionell gestörtes Wirbelgelenk gegeben wird. Der Patient verspürt den Impuls als solchen nicht schmerzhaft, erschrickt jedoch manchmal wegen des kurzen Rucks an seinem gestörten Wirbelsäulensegment.
Wer darf Chirotherapie erhalten?
Prinzipiell ist eine Altersbegrenzung bis zum 65.Lebensjahr anzuraten, wobei es in der Praxis durchaus vorkommt, daß Patienten mit höherem Alter bei unauffälligem Röntgenbefund (keine fortgeschrittene Osteoporose, Metastasen, entzündliche Geschehen, Frakturen, Bandscheibenvorfälle, starke Überbeweglichkeiten der Wirbel oder massive Abnützungserscheinungen vorausgesetzt) eine chirotherapeutische Behandlung erhalten.
Komplikationen?
Die aus der Literatur entnommenen Zahlen zeigen am Beispiel von 203 schweizer Manualmedizinern, die in 33 Jahren 2.268.000 Manipulationen durchgeführt haben, nur vier Komplikationen, die einer kurzzeitigen Spitalspflege bedurften.
Wie oft soll ich zum Chirotherapeuten ?
Die richtige Technik vorrausgesetzt und stark vom körperlichen Zustand abhängig sollte pro Jahr nicht öfter als ca.5 Mal Manipulationen vorgenommen werden (Gefahr der künstlichen Überbeweglichkeit). Impulslose Techniken jedoch sind ohne Probleme nach Bedarf möglich.
Da es den Rahmen meiner Ausführung sprengen würde, klammere ich einige Krankheitsbilder ganz bewußt aus den Beschreibungen aus:
– Tumoren und Metastasen
– angeborene Fehlbildungen (z.B. Skoliosen, Kyphosen,… )
– entzündliche Prozesse (Morbus Berchterew, Psoriasis,…)
und widme mich den häufigen alltäglichen Beschwerden:
– Die Lumbalgie
– Die Bandscheibenvorwölbung
– Der Bandscheibenvorfall
DIE LUMBALGIE (einfacher Kreuzschmerz. Lumbago, Hexenschuß oder auch Ischias):
Die Ursachen des klassischen Kreuzschmerzes sind wie bereits erwähnt oft jahrzehnte alt und wurden immer wieder durch den Körper kompensiert, um das labile Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Als dann hinzukommender Auslöser genügt manchmal lediglich eine Fehlbewegung, die gerade mit einem Zeitpunkt schwacher Kompensation zusammenfällt. Oftmals kann sich der Patienten gar nicht mehr N den Vorfall erinnern.
Ursache und Auslöser vereinigen sich nun zu einem heftigen Schmerz.
Im Falle der Lumbalgie ist dies ein lokaler ein/beidseitiger plötzlich stechender Schmerz im Kreuzbereich, mit oder ohne Ausstrahlung in die Gesäßgegend mit schmerzbedingter Beweglichkeitseinschränkung.
Die Lumbalgie wird technisch gesehen meist durch ein kurzfristiges Überschreiten des Wirbelkörpergelenkspieles ausgelöst und ist daher die therapeutische Domäne der Chirotherapie.
Die Bandscheibenvorwölbung (Protrusion) und der Vorfall (Prolaps) haben ihre Ursache in einer Vorwölbung / Abrutschen von Bandscheibenteilen in den Rückenmarkskanal oder den Wurzelkanal mit Einengung und teilweiser Verdrängung von Nervengewebe. Hier sind der meist einseitige, bitzartig einschießende Schmerz in bestimmte Beinrregionen typisch (Nervenwurzelreizung). Verknüpft sind Protrusion und Prolaps fast immer mit Gefühlsstörungen, Lähmugen und Muskelreflexabschwächung in der betroffenen Beinregion.
Ein akutes Gefahrenzeichen, das einer UNBEDINGTEN Therapie zugeführt werden muß.
DIE THERAPIE
1.) Lumbago: Oft erfordert die Schmerzsituation spezielle Röntgenaufnahmen, oft reichen auch aktuelle mitgebrachte Standardaufnahmen (nicht älter als 2 Wochen) aus, um eine erste Sitzung durchzuführen. Mitttels diese Röntgens, genauester Krankengeschichte und be-greifender Untersuchung kann der versierte Arzt nun eine genaue Diagnose der Blockierung (welcher Wirbel ist bewegungseingeschränkt, welche Muskel und Bänder sind mitbetroffen) stellen.
Aus der Untersuchungssituation heraus kann der Arzt dann häufig sofort durch Dehnen (Mobilisierung) oder Manipulation (Knacksen) den ersten Heilerfolg erzielen.
Es liegt dann in seinem Ermessen eventuell zusätzlich durch Verabreichung von Injektionen stark mitgereizte Muskeln und Bänder zu beruhigen. Dies ist ein wichtiger Teil des Heilerfolges, der nur Ärzten erlaubt ist.
Bei akutesten Fällen zielt die Ersttherapie mit Spritzen, Tabletten und Ruheverordnung zunächst nur auf Schmerz.-und-Muskelspannungslinderung ab und es kann erst nach Abklingen der größten Beschwerden wie oben beschrieben fortgefahren werden
Der Patient fühlt sich häufig schon nach der Erstbehandlung und dem Abklingen von anfänglichen, durch die Therapie bedingten Reizungen (nach 12-24 Stunden) wesentlich erleichtert und freier. Ein bis zwei Kontrollen runden die Behandlung beim Arzt später noch ab.
In fast 80% der Fälle wird der Patient dann einer weiterführenden heilgymnastischen Betreuung zugeführt, ohne die sich seit langer Zeit bestehende Probleme (siehe Ursachen und Auslöser) nicht lösen lassen. Heilgymnastik und Rückenschule sind nach der vollständigen Abklärung der einzige Weg, um auch vor weiteren Problemen vorzubeugen.
2.)Prolaps/Protrusion: Zusätzlich zur Normaldiagnostik und Röntgen ist hier die Magnetresonantomographie (MRT) und die Computertomographie (CT) ein äußerst hilfreiches Diagnosemittel, das genaueste Informationen über Lage des Bandscheibengewebes und die Höhe der betroffenen Nervenwurzel geben kann. Je nach Schweregrad der Symptome reicht die Therapiepalette von Infiltrationen und Tabletten mit Heilgymnastik über die konservative Krankenhausbehandlung mit zusätzlichen Infusionen und spezieller Lagerung bis zur sofortigen Operation zu Entlastung der Nervenwurzel.
Zusammenfassend
– akute LWS-Schmerzen sind durch gründliche Diagnostik
und Therapie gut behandelbar
– Heilgymnastik und Rückenschule ist nicht nur Therapie,
sondern auch Vorsorge
– Bewegung fördert Durchblutung und mindert Verspannungen
– gleichartige, sich öfter im Jahr wiederholende LWS Schmerzen sollten abgeklärt werden
– jeder Schmerz mit Lähmungen muß sofort behandelt werden
– Erkennen und achten Sie auf Fehlhaltung (gerade bei Kindern)
und beginnen Sie rechtzeitig mit der Korrektur
– Überlassen Sie die richtige Diagnose und Therapie einem
Arzt Ihres Vertrauens
– Richtiges Heben aus den Kniegelenken erlernen
– Achten Sie auf eine korrekte Sitzposition im Alltag
Lumbago zählt sicher zu einer der Volkskrankheiten Nummer eins, richtig abgeklärt und diagnostiziert aber bietet die Medizin eine Vielzahl von Therapiemöglichkeiten zur Heilung an.
Literatur für Mediziner:
<Der Wirbelsäulenpatient>
Hans Tilscher und Manfred Eder; Springer Verlag
<Klinik der Wirbelsäule – Befunderhebung und Therapieplanung>
Hans Tilscher und Manfred Eder; Hippokrates Verlag
<Trainingstherapie im Rahmen der Manuellen Medizin>
R.Gustavsen, R.Streeck; Thieme Verlag
Literatur für Patient:
<Der Mensch ist so jung wie seine Gelenke>
Horst Cotta ; TB, Serie Piper Gesundheit